Hat Business eine Tradition?
19.12.2022
tqg.de
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Ein gigantisches Hochdruckgebiet umhüllt seit Wochen das Weihnachtsland. Es ist klirrend kalt, leise rieselt der Schnee und der Alte (Senior Expert) ist schon im Erwartungsfieber auf die wohl bekannteste Spätschicht eines jeden Jahres. Es ist seine Pflicht, ja es gehört sozusagen zur Tradition, einen Brief an seine Brüder - den Nikolaus und Knecht Ruprecht - zu schreiben. Er nennt es liebevoll „The Christmas Diary“. Seit Jahrhunderten ist es diese Aufgabe zum Abschluss der Adventszeit, auf die er sich immer schon freut. Er beschreibt die Erfolge seines Teams, lässt die lange Zeit der Vorbereitung Revue passieren und erzählt dabei die niemals endenden Kindergeschichten mit ihren unglaublich schönen Erwartungen. Auch in diesem Jahr haben ihm die Helferlein seinen Lieblingssaft, mit einem extra großen Halm, bereitgestellt. Eine Vorsichtsmaßnahme der besonderen Art, wie sich noch herausstellen wird, denn es kam immer öfter vor, dass er sich gar arg verschluckte, dass das tiefe Prusten danach wie ein grollendes Gewitter ringsherum hörbar war. Es duftet so herrlich süßlich, dass er sich den ersten tiefen Zug nicht verwehren kann und die betörende Wirkung sogleich eintritt.
Blubb… die Tintenfeder kleckst auf das riesige Papier vor ihm. „Oh je!“ entfährt es ihm. Wie um Hilfe suchend schaut er von seiner wundervoll geschmückten Weihnachtszentrale hinunter ins endlose Weit des Winterwaldes mit den gigantischen Rentierställen. Die aufgereihten Schlittenkolonnen mit den unendlich vielen Paketen reichen soweit seine Augen noch blicken können. Der digitale Startpult für den Weihnachts-Countdown ist wie immer pünktlich gerichtet, der Klecks vor ihm ärgert ihn grollend und so legt er los…
„Meine lieben Freunde, gern möchte ich euch berichten…“ – doch da erlischt seine Schreiblust. In seinem Kopf schwirren tausend Gedanken. Ängste und Sorgen kommen in ihm hoch. Was ist dieses Jahr nur los? Also, noch einen Zug aus dem riesigen Pott, dann wird’s schon gehen…
Autsch, auch das noch! Zunge verbrannt. Das stört ihn sonst nicht, aber jetzt ist er hellwach.
Aus der Holzkiste, die früher mal ein Radio war, läuft jetzt Werbung von einem Streamingdienst. Seine IT-Jungs haben immer was Neues für ihn parat. Die wollen ihn immer an den aktuellsten Innovationen teilhaben lassen. „Damit er nicht rostet“, sagt Rudi, das Rentier, manchmal schon ziemlich vorwurfsvoll. „Werden Sie Teil unseres Teams. Wenn Sie bisher Spätschichten gemacht haben, dann werden Sie sich bei uns im Team tagsüber wohlfühlen…“ heißt es da in der Werbung. „Was?“ schreit er überreizt. „Wir schieben in unserem Team seit Generationen die längsten Spät- und Nachtschichten und das soll jetzt nicht mehr cool sein? Was ist los mit dieser Welt?“ Jetzt kommt er in Rage und mit einem Mal laufen wie in einem Film die vielen eigenartigen Meldungen der letzten Monate vor ihm ab: Ein Kleingetier verteilt sich über die Welt, ein Wüterich will Nazis vertreiben und sich ein ganzes Land einverleiben, die letzte Generation weißt auf den bevorstehenden Kollaps hin und dabei übertreffen sich die Oligarchen gegenseitig an Wahnvorstellungen. Der eine will Winterschnee, wo Sommerhitze herrscht, der andere prahlt mit lustigen Ballspielen in brütend heißem Sand. Die Flugzeuge düsen leer durch die Lüfte, um Landeplätze zu sichern. Milliardäre gönnen sich Weltraumreisen zu astronomischen Bedingungen. Am Bosporus werden Pflanzen mit CO2 behandelt damit sie schön grün bleiben. Die meisten Länder trennen immer noch keinen Müll und die größte Energiebelastung geht langfristig von IT-Systemen aus. In Wüstenstaaten fahren die 40 Jahre alten Diesel, keinen stört es. E-Autos sollen die Rettung sein, aber um Energie zu sparen, werden Parolen wie „Fenster zu und Heizung aus“ proklamiert, wo noch heuer zu Beginn des Jahres unendlich viele Lüfter die Menschheit vor dem kleinen Wurm retten sollten. Nicht genug, ein Kind schreibt ihm, Pippi Langstrumpf und Karl May’s Winnetou seien rassistisch und zu St. Martin soll man jetzt Sonne, Mond und Sternefest sagen.
Ist die Welt verrückt? Ab wann sind wir Brüder out oder wird gar das Weihnachts- und Osterfest abgeschafft, weil wir nur Spinner sind?
Der gigantische rote Bottich wird zum Rettungsanker und mit großer Wut im Bauch zieht er tief und lang am Halm. Dabei kommt es wie es kommen musste und er verschluckt sich fürchterlich. Der Atem ist weg, die Angst in seinen Augen sichtbar. Er prustet, hustet und würgt ein schlabbriges Etwas aus seinem Hals heraus. Mit lieber Not gelingt ihm ein tiefer Atemzug, der ihn wieder etwas beruhigt. Was war das denn? In seiner Hand ein Stück Halm, völlig vermatscht und aufgeweicht. Das Ding steckte in seinem Hals. Erst jetzt begreift er, dass der Halm nur noch zur Hälfte aus dem dampfenden Saft herausragt und knetet das Etwas in seiner Hand. Ist das etwa Pappe? Voller Zorn wirft er den Rest in die lodernde Glut des riesigen Kamins am anderen Ende des Raumes. „Verflucht!“ übertönt er jetzt die vor sich hin säuselnde Melodie eines Weihnachtsliedes aus der Holzkiste. „Es gibt so viel bessere Ansätze die Welt zu verändern als so einen Halm aus Pappe. Vor allem die Kinder berichten in ihrer Weihnachtspost von so viel Not und rufen mich um Hilfe.“
Auf einmal bewegt sich seine Hand wie von selbst und die Feder kritzelt los …
„Ich hör von Menschen in der Not, von Kindern deren Wangen rot,
wenn Kälte in die Zimmer schleicht, wenn‘s Geld nicht für ein Essen reicht.
Die einen ohne Unterlass, vergeuden schier im endlos Brass,
dass man als Verschwendung kann titulieren, um zu geh‘n dann protestieren,
um zu erreichen, dass alle davon sich begleichen,
Drum mahn ich euch aus meinem Blick
seid dankbar für Wohlstand und das Glück,
ohne Hass und Streit soll euch Vernunft bekehren,
damit Nachhaltigkeit euch führt zu Ehren.“
Mit seinem besten Freund hatte er mal seine Gedanken, so oder so ähnlich, ausgetauscht. Von seiner poetischen Ader wusste er bis dato nichts. Aber mit dieser Mischung aus Frust und Schwermut, ist er sehr zufrieden. Wo doch sonst über all die Jahre eine mehrere Seiten lange Weihnachtsbotschaft von ihm kam, stehen nun drei simple einfache Verse.
„HoHoHo“ – entfährt es ihm genüsslich und er kritzelt mit übergroßen Lettern seine Signatur drunter und lässt die markante Schreibfeder in das Tintenfass fallen.
Macht was draus und bleibet dran
Euer Weihnachtsmann
PS: Was soll er jammern, hetzen oder Anderen Vorhaltungen machen? Er denkt an Glauben, Hoffnung, Traditionen und die Vernunft der Menschen. Er hat kein Rezept, um die Probleme auf Erden zu lösen. Es gibt nur die eine Welt, es gibt nur einen Weihnachtsmann. Aber es gibt viele Wege, nachhaltig, respektvoll und mutig Veränderungen herbeizuführen. Im Business und über Generationen hinweg, wenn wir daran glauben, gemeinsam die Herausforderungen zu gestalten. Schon Olaf, der wohl berühmteste Schneemann, sagte: „Ich liebe Traditionen!“. Ich auch, weil diese Traditionen über Jahrhunderte, Hoffnung und Motivation geben, dass das Vergangene nicht komplett schlecht und das Gegenwärtige nicht umsonst sind, sondern die Zukunft in unserer Hand liegt. Nutzen wir die Weihnachtstradition zur Besinnung und freuen uns auf das nächste Weihnachtsfest…
Ihr Wichtel
Steffen Schaar